Artikel aus dem niedersächsischen Ärzteblatt 7/2015:
Gar nicht mehr so neu – die Neuropsychologie
„Bairn-ni-kell“ (die Kinder nicht töten) soll ein Schlachtruf der Normannen bei Ihren Überfällen gewesen sein. Die Kinder besonders zu bedenken ist kein neuer Gedanke, soll aber doch einmal mehr in Erinnerung gerufen werden.
Seit 2012 ist die neuropsychologische Therapie anerkannt als Methode der ambulanten Vertragsärztlichen Versorgung (MVV-Richtlinie). Zugelassen werden die Kollegen/innen die eine anerkannte Zusatzqualifikation in der klinischen Neuropsychologie nachweisen können. Mit dieser Zulassung kann jede Altersgruppe behandelt werden. Soweit sich diese Behandlungsmöglichkeit für Erwachsene schon mehr etabliert hat, so sehr bleibt doch hinter ergotherapeutischen und logopädischen Verordnungen die Möglichkeit einer neuropsychologischen Behandlung für Kinder oft ungenutzt.
Aufgabengebiete der klinischen Neuropsychologie
Neben der Beschreibung des aktuellen kognitiven bzw. affektiven Zustandes des Patienten mit zunächst eingehender Diagnostik und anschließender systematischer Therapie, gehören auch Verlaufsuntersuchungen, gutachterliche Stellungnahmen, Rehabilitationsplanungen und die Feststellungen von kognitiven Funktionsstörungen in Art und Ausmaß bei morphologisch nachgewiesenen Hirnschädigungen zum Aufgabengebiet.
Zu den klinischen Aufgaben der Neuropsychologie gehören die Diagnostik und die Behandlung der verschiedenen Funktionsstörungen. Spezifische Defizite in den Bereichen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis, Planen und Problemlösen, Sensomotorik und Sprache erfordern auch eine spezifische und parameterfokussierte Therapie, welche nur in Kombination mit den hoch differenzierten Diagnostik-Möglichkeiten der Neuropsychologie effektiv wird.
Die Neuropsychologie tritt dabei nicht Konkurrenz zu anderen methodischen und inhaltlichen Zugängen (z. B. der Psychopathologie), sondert liefert einen eigenständigen Beitrag und stellt damit für die Untersuchung des mentalen Status das quantitative und qualitative Rückgrat dar (Caine & Joynt, 1986).
Jede Verminderung von Funktionseinbußen bzw. Zunahme der Funktionsfähigkeit führt zu einer Abnahme der Behinderung und steigert die Selbständigkeit, die schulischen und beruflichen Reintegrationsmöglichkeiten sowie die Lebensqualität und soziale Integration des betroffenen Patienten.
Diagnostik
Mit einer gezielten Diagnostik (überwiegend mit standardisierten neuropsychologischen Testverfahren, ebenso aber auch mit geschulter psychologischer Verhaltensbeobachtung) wird versucht, den kognitiven bzw. affektiven Zustand des hirngeschädigten Patienten zu erfassen. Dabei geht es nicht nur um die Beschreibung der Defizite, sondern besonders um die Erschließung der erhaltenen und zur Restitution und/oder Kompensation nutzbaren Ressourcen.
Für die meisten kognitiven Bereiche stehen ausreichend überprüfte neuropsychologische Behandlungsverfahren zur Verfügung. Dabei stützt die Therapie sich vor allem auf das Wissen der Hirnforschung (Neurowissenschaften). Mit Hilfe neuropsychologischer Untersuchungsverfahren können kognitive Störungsmuster zuverlässig und valide entdeckt und eingeordnet werden.
Wesentliche kognitive Störungsbereiche
Lernen und Gedächtnis
Aufmerksamkeit, Konzentration und Verarbeitungstempo
Exekutivfunktionen, Planen, Problemlösen
Raumvorstellung
visuelle, auditive und räumliche Wahrnehmung
psychische Alterationen nach Hirnschädigung
Auch in der neuropsychologischen Diagnostik gelten die bekannten Testgütekriterien wie Objektivität, Reliabilität und Validität, wobei sich die Validität im Besonderen auf die spezifische Erfassbarkeit der Funktionsstörung bezieht.
Von besonderer Bedeutung ist in der Regel der Einbezug der Angehörigen, den dieses gut ausgestattete Stundenkontingent auch ermöglicht.
Art, Umfang und Dauer der Therapie
Es besteht keine Antragspflicht für die Therapie selber. Lediglich der Beginn ist dem zuständigen Hausarzt und der zuständigen Krankenkasse, spätestens nach den 5 probatorischen Sitzungen anzuzeigen.
Es kann sich um eine Einzeltherapie oder Gruppentherapie handeln. Darauf wird dann ein Therapieprogramm individuell für jeden Patienten zusammengestellt. Das Ziel ist dabei die Wiedereingliederung des Patienten in seinen Alltag, sowie die schulische oder berufliche Rehabilitation. Dabei kann jede Altersgruppe betroffen sein.
Ein weiterer Vorteil ist, dass die standardisierte, neuropsychologische Diagnostik und die Durchführung der Therapie in einer therapeutischen Hand liegt. Da es sich bei den zugelassenen Neuropsycholog/Innen um Psychotherapeuten und Ärzte handelt, können neben den Funktionsausfällen auch die psychischen/somatischen Beeinträchtigungen mit behandelt werden.
Leistungsumfang
maximal bis zu 5 probatorische Sitzungen zur Diagnostik
Einzelbehandlungen bis zu 60 Sitzungen à 50 Minuten (oder 120 Sitzungen bei Unterteilungen in 25 Minuten), ggf. um 20 Sitzungen verlängerbar
Gruppenbehandlung bis zu 40 Sitzungen à 100 Minuten oder bis zu 30 Sitzungen à 50 Minuten Sitzungsdauer
bei einer Kombination von Einzel- und Gruppentherapie ist die gesamte Behandlung im Rahmen des als Regelfall definierten Leistungsumfangs von 60 oder 120 Sitzungen durchzuführen
Diese Personengruppen können behandelt werden
Voraussetzung für die Abrechnung einer neuropsychologischen Therapie ist das durch einen Neurologen (in Ambulanz ober Klinik) fachärztlich attestierte Vorliegen einer Hirnschädigung oder einer hirnschädigenden Erkrankung.
Der Neuropsychologe muss auf Basis des ICD-10-GM eine der folgenden Diagnosen stellen
F04 Organisches amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
F06.6 Organische emotional labile Störung
F06.7 Leichte kognitive Störung
F06.8 Sonstige näher bezeichnete psychische Störungen aufgrund der Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
oder einer körperlichen Krankheit
F07 Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
Die Therapiefähigkeit des Patienten muss gegeben sein.
Weitere, gerade auch psychische Diagnosen dürfen hinzutreten und dürfen dann auch parallel oder im Vorwege bzw. im Anschluss psychotherapeutisch behandelt werden, und zwar uneingeschränkt mit den dort üblichen Kontingenten. Auch wenn sich z. B. ein Patient in einer Psychotherapie befindet, dort aber hirnorganisch bedingte kognitive Defizite auffallen, darf (wenn entsprechend qualifiziert) durch denselben oder sonst durch einen anderen Behandler die neuropsychologische Behandlung aufgenommen werden.
Zur Patientengruppe im Bereich der Kinder und Jugendlichen wie Erwachsenen gehören Erkrankungen/Störungen wie z. B.
Schädel-Hirnverletzungen
Insulte (hämorrhagisch, nicht-hämorrhagisch)
Mikroangiopathie
Karzinome des Gehirns
Leichte oder beginnende degenerative Erkrankungen des Gehirns
Entzündliche Erkrankungen des Gehirns (z. B. E.D., Encephalitis, Meningitis)
Epilepsie
Ausschlusskriterien
Hirnschädigungen, die länger als 5 Jahre zurückliegen
Kongenitale Schädigungen, Behinderungen
Ausgeprägtere Demenz
Hypoxische o. ä. Hirnschädigung mit Aufhebung der Lernfähigkeit
Qualifikation der Behandler
Als neuropsychologische Behandler stehen Psychotherapeuten oder Ärzte mit neuropsychologischer Zusatzqualifikation und einer entsprechenden Abrechnungsgenehmigung zur Verfügung.
Die Spezifität des neuropsychologischen Behandlungsangebotes ist unverzichtbar im Rehabilitationsprozess hirngeschädigter Kinder, Jugendlicher oder Erwachsener.
Autorinnen
Dipl.-Psych. Sonja Pfeifer-Vagt, Klinische Neuropsychologin PKN u. GNP, Celle
Dipl.-Psych. Friederike v. Starck, Klinische Neuropsychologin PKN, Master of Advanced Studies UZH, Wietze